Mit Unverständnis reagiert der mehrfache Paralympics-Champion und Sportwissenschaftler Wojtek Czyz auf die heutige Entscheidung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Markus Rehm nicht für den Nationalkader und die Teilnahme an der Europameisterschaft zu nominieren. Der Unterschenkelamputierte Rehm hatte mit Prothese am vergangenen Wochenende als erster Behindertensportler gegen nichtbehinderte Athleten die deutsche Weitsprung-Meisterschaft errungen.
„Das Wichtigste für eine objektive Entscheidung ist die Klärung der Frage, ob die Prothese Markus Rehm tatsächlich einen Vorteil gegenüber Nichtbehinderten verschafft. Diese Frage jedoch ist noch v_llig ungeKlärt, und die bisher verÖffentlichten Informationen sprechen nicht für eine belastbare Analyse“, erKlärt Czyz. „Der DLV hat offenbar nicht aufgrund von Tatsachen, sondern aufgrund von Wahrscheinlichkeiten entschieden. Dies sollte nicht Grundlage einer derart weitreichenden Entscheidung sein.“ Entsprechend rät Czyz seinem ehemaligen Teamkollegen, gegen die DLV-Entscheidung vorzugehen, _hnlich wie sich der beidbeinig amputierte Oscar Pistorius die Teilnahme an der Olympiade 2012 erstritten hatte. „Solange ein materialbedingter Vorteil nicht belastbar erwiesen ist, sollte Markus Rehm das selbstverst_ndliche Recht haben, bei der Europameisterschaft zu starten.“
Der Vorschlag von Diskus-Weltmeister Robert Harting, Rehm solle schlicht mit seinem anderem Bein abspringen, sei nur eine von vielen absurden Blüten, die die aktuelle Diskussion treibe. Czyz: „Erst wenn Robert Harting selbst mit seinem anderen Arm wirft, damit seine persönliche Bestleistung übertrifft und Gold gewinnt, darf er diesen Vorschlag gerne machen.“
Ursprünglich bezeichnete Czyz den Sieg Rehms bei den deutschen Meisterschaften als Anbruch einer „neuen óra des Behindertensports“ und „Meilenstein der Inklusion“. Die Entscheidung des DLV, Rehm nicht zu nominieren, sei demgegenüber nun ein „ernüchterndes Signal“ und „bedauerlich für die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen dem Behindertensport und dem Nichtbehindertensport“. Dabei bescheinigt Czyz, der 2013 seine Profi-Karriere beendete und dessen Biografie mit dem Titel „Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand“ im August erscheint, den Verb_nden gravierenden Nachholbedarf. „Wenn jetzt unter hohem Zeitdruck eine Hauruck-Entscheidung gefällt wird, entlarvt dies die mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Thema.“ Denn: „Sp_testens seit den Erfolgen von Oscar Pistorius h_tte man sich intensiv mit der Frage der Vergleichbarkeit von Leistung befassen und entsprechende Kriterien entwickeln müssen.“
Czyz berichtet aus eigener Erfahrung. In seiner Biografie schreibt er: „Seit 2002 betreibe ich Behindertensport, auf nationaler und internationaler Ebene, und in dieser ganzen Zeit sind meine Prothese oder deren Bauteile nicht ein einziges Mal auf Wettbewerbskonformität geprüft worden.“ Er selbst wurde mit dem Thema konfrontiert, als er bei den Paralympischen Spielen 2012 eine Debatte über technisches Doping lostrat, indem er bei seinem Teamkollegen Heinrich Popow den Einsatz einer Prothese monierte, die bis dato im freien Verkauf nicht erh_ltlich gewesen sei. Auch diese Begebenheit thematisiert er in seinem Buch.
Der Oberschenkelamputierte Czyz z_hlt mit Teilnahmen an drei Paralympischen Spielen (Athen, Peking, London) und mehrfachen Goldmedaillen im 100- und 200-Meter-Lauf sowie im Weitsprung zu den erfolgreichsten Leichtathleten überhaupt. Derzeit bereitet er mit seiner Lebensgef_hrtin, der italienischen Hochspringerin Elena Brambilla, eine Weltumseglung vor, bei der er in Entwicklungsl_ndern über prothetische Versorgung aufKlären möchte. Seine im August erscheinende Biografie „Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand“ zeichnet seine Karriere nach: Von der Emigration aus Polen nach Kaiserslautern, dem Vertrag als Profifussballer bei Fortuna Köln, dem jähen Schicksalsschlag in einem Rundenspiel, bei dem er nach einem Foul und einer medizinischen Fehlerkette sein Bein verlor, bis hin zu seiner Suche nach sich selbst und seinem Weg an die Weltspitze des Behindertensports.
Quelle: Edel Books
Juli
31
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