Viele (Noch-)Nichtmitglieder, aber auch einige Mitglieder des Bundesverbands stellten uns die Frage, wozu wir einen Bundesverband brauchen und warum man Mitglied in diesem Bundesverband sein sollte. Dazu befragten wir den Präsidenten des Bundesverbands Dieter Jüptner.
Herr Jüptner, welche Beweggründe haben zur Gründung des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation geführt?
Aus Gesprächen mit verschiedenen Selbsthilfegruppen entstand im Juli 2009 ein Konsens, der die Notwendigkeit einer bundesweiten Interessenvertretung nahelegte. Ein wichtiger Punkt war beispielsweise die oftmals mangelhafte prothetische Versorgung, die nicht an mangelndem Willen der Beteiligten liegt, sondern eine Folge des Verfahrens vom Zeitpunkt der Amputation an bis zur Wiedermobilmachung ist. Hier müssen Fehler im System aufgezeigt und korrigiert werden; dazu bedarf es einer starken Interessenvertretung.
Setzt der Bundesverband dort an?
Ja, das haben wir uns auf die Fahne geschrieben. Wir wollen für unsere Mitglieder da sein – vom Zeitpunkt vor der Amputation bis zur endgültigen prothetischen Versorgung. Auch danach wollen wir ihnen in den Selbsthilfegruppen einen Platz in einer Gemeinschaft bieten. Und nicht nur das. Wir haben einen Forderungskatalog aufgestellt, den wir als Richtschnur für unsere weiteren Bemühungen als generelle Interessenvertretung für alle Amputierten ansehen. So ist dort beispielweise neben der Forderung nach offenen Prothesensprechstunden auch das Thema Parkerleichterungen angesprochen. Viele Beinamputierte haben einen erhöhten Platzbedarf beim Aussteigen aus ihrem Fahrzeug, das bedeutet, sie müssen die Fahrzeugtür weiter öffnen können, als es auf vielen Parkplätzen möglich ist. Wir streben die Durchsetzung des Merkzeichens „aG“ für diesen Personenkreis an. Dafür haben wir eine sehr aktive Selbsthilfegruppe in Rheine, die derzeit mit einer Petition dieses Ziel verfolgt.
Die Öffentlichkeit und vor allem die Politik muss für die Belange der Arm- und
Beinamputierten sensibilisiert werden. In vielen Gesprächen mussten wir feststellen, dass wir nach der Entlassung aus Krankenhaus und Rehabilitationseinrichtung als „geheilt“ gelten. Dies ist leider nicht so. In der Öffentlichkeit werden amputierte Menschen anders als Rollstuhlfahrer oder Blinde nicht als Behinderte mit besonderen Bedürfnissen wahrgenommen. Dies spiegelt sich auch in vielen Vorschriften zur Barrierefreiheit wider. Treppen oder Schrägen ohne Handläufe können Beinamputierten erhebliche Probleme bereiten. Im Hotel- und Gastgewerbe sind die besonderen Bedürfnisse amputierter Menschen ebenfalls noch weitgehend unbekannt. Um all dies allen Beteiligten ins Bewusstsein zu bringen müssen wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Das ist aktive, sehr personal- und zeitintensive Lobbyarbeit im Sinne aller Amputierter. .
Was sehen Sie als Hauptaufgaben des Verbandes?
Wir wollen eine Interessenvertretung von amputierten Menschen gegenüber Kostenträgern und Leistungserbringern sein. Wir wollen durch Information der Entscheidungsträger bei den gesetzlichen und privaten Krankenkassen und den Verbänden der orthopädischen Betriebe über die Probleme und Wünsche der auf eine Prothese angewiesenen Menschen wesentliche Verbesserungen für alle Amputierten erreichen. Es ist nicht akzeptabel, dass der Kostenträger eine an sich notwendige prothetische Versorgung nicht genehmigt, dass eine teure Prothese aufgrund eines mangelhaften Ablaufschemas nach einer Amputation schlichtweg unbrauchbar ist, oder dass dem Amputierten eine Rehabilitationsmaßnahme in einer Schwerpunktklinik für Beinamputierte verwehrt wird, weil der Kostenträger diese Schwerpunktkliniken oftmals gar nicht kennt. Wir wollen bei der Entwicklung neuer Prothesenpassteile durch die Industrie und bei der Festlegung neuer Standards durch Kostenträger oder Gesetzgeber schon frühzeitig mit einbezogen werden und die Entscheidungsprozesse aktiv mit gestalten.
Bleiben wir bei diesem Thema. Welche konkreten Forderungen haben Sie an die Kostenträger und Leistungserbringer?
Wir fordern die Gleichstellung aller amputierten Menschen unabhängig vom Versicherungsträger, eine individuelle und qualitativ hochwertige Prothesenversorgung für alle amputierten Menschen, darüber hinaus eine optimierte Behandlungskette durch qualifizierte Rehabilitationsteams.
Wir sind für die freie Wahl von Arzt, Sanitätshaus und Rehabilitationseinrichtung, die Weiterführung der solidarischen Finanzierung des medizinischen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritts in der Prothetik. Wir sind weiterhin für den Verzicht auf Zuzahlungsmodelle, die amputierte Menschen über ein sozial verträgliches Maß hinaus belasten.
Einer der Schlüsselbegriffe bei der prothetischen Versorgung ist der plakative Begriff der „Gewaltenteilung“. Was genau ist damit gemeint?
Das Problem beim jetzigen Ablauf der prothetischen Versorgung ist, dass der verordnende Arzt in der Regel keine genaue Spezifikation der notwendigen prothetischen Versorgung vornimmt. Der beauftragte Orthopädietechniker, dessen Qualifikation der Patient fast nie beurteilen kann, entscheidet über die für den Patienten richtige Versorgung; er baut dann die auf dieser seiner Entscheidung basierende Prothese für den Patienten. In fast allen Fällen wird der Orthopädietechniker das Ergebnis der prothetischen Versorgung auch selbst beurteilen. Eine qualitative Überprüfung der fertiggestellten Prothese durch einen sachverständigen Dritten findet nur in Ausnahmefällen statt. Hier fehlt die, wie wir es bezeichnen, Gewaltenteilung. Wer eine prothetische Versorgung durchführt, sollte das Ergebnis nicht auch noch selber beurteilen dürfen. Wir fordern daher mindestens eine offene Prothesensprechstunde in jedem Bundesland, die von jedem Amputierten in Anspruch genommen werden kann und die von Medizinern und Orthopädietechnikern durchgeführt wird, die bezüglich der prothetischen Versorgung amputierter Menschen besondere Erfahrung haben.
Wie kann man die Ziele des Bundesverbands kurz zusammenfassen?
Wir wollen die Lebensqualität von Menschen mit Arm- oder Beinamputation verbessern.
Warum soll man jetzt Mitglied im Bundesverband werden?
Derzeit arbeiten etwa 45 Selbsthilfegruppen mit uns zusammen. Dem gegenüber stehen in Deutschland mehr als 200.000 Amputierte und jedes Jahr mehr als 40.000 neue Amputationen Wenn wir von Politik, Kostenträgern und der breiten Öffentlichkeit als Interessenvertretung aller Menschen mit Arm- oder Beinamputation ernst genommen werden wollen, brauchen wir viele, sehr viele, Mitglieder. Wir brauchen Einzelmitglieder, die nach außen signalisieren, dass sie uns als ihre Lobby beauftragt haben und wir brauchen Mitgliedschaften von Selbsthilfegruppen, damit die Wünsche und Anregungen von deren Teilnehmern in den Bundesverband und von dort weiter in die Öffentlichkeit und zu den Entscheidern getragen werden.
Das Interview führte Jochen Metz
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